ESO-Leitlinie Carotisstenose

Mitautor Prof. Dr. Joachim BerkefeldMitautor Prof. Dr. Joachim BerkefeldBonati L, Kakkos S, Berkefeld J et al. European Stroke Organisation guideline on
endarterectomy and stenting for carotid artery stenosis. Eur Stroke J. 2021 Jun;6(2):I-XLVII.
doi: 10.1177/23969873211012121. Epub 2021 May 11.

Nachdem  die  Arbeit  an  der  Carotis-Leitlinie  der  European Stroke Organisation (ESO)  im  Frühjahr  2021  erfolgreich abgeschlossen wurde, ist die Publikation inzwischen auch für Nicht-Abonnenten des European Stroke  Journal  über  PubMed  abrufbar.  Eine  internationale  multidisziplinäre Leitlinienkommission  hat  nach  den  strengen  methodischen  Regeln  des  GRADE-Verfahrens (Grading  of  Recommendations,  Assessment,  Development  and  Evaluation)  Schlüsselfragen und relevante Endpunkte (PICO-questions; Population, Intervention, Comparator, Outcome) definiert.  Schlaganfall  und  Tod  periinterventionell  und  im  Langzeitverlauf  gelten  damit  als entscheidende  Kriterien  für  die  Bewertung  der  Behandlung  von  Carotisstenosen.  Die
Literaturrecherche  beschränkte  sich  aus  Zeitgründen  auf  randomisierte  Studien.  Die  daraus gewonnene Evidenz wurde nach den im GRADE-Handbuch festgelegten Regeln systematisch bewertet. In wöchentlichen Videokonferenzen wurden die Qualität der Evidenz und die Stärke der  daraus  abgeleiteten  Empfehlungen  und  der  darauf  basierende  Leitlinientext  von Gefäßchirurgen, Neurologen und Neuroradiologen konsentiert.
 
Die Beschränkung auf Evidenz durch randomisierte Studien bedingt eine Festschreibung des Primats der chirurgischen gegenüber der kathetergestützten Behandlung. Es wird allerdings kritisch  angemerkt,  dass  die  Studiendaten  zum  Spontanverlauf  unter  medikamentöser Therapie und zum Vergleich Stent (CAS) vs. operative Behandlung (CEA) bei symptomatischen Stenosen  veraltet  sind  und  die  heutige  Versorgungsrealität  nicht  mehr  korrekt  abbilden. Dementsprechend  wird  die  daraus  abgeleitete  Evidenz  z.  T.  abgewertet  und  als  mäßig bezeichnet.    Die  im  Text  erhobene  Forderung  nach  neuen  RCTs  ist  allerdings  für
symptomatische Patienten nicht sehr realistisch. ,  
 
Die Fertigstellung der Leitlinie erfolgte vor Publikation der ACST-2-Studie (Halliday et al. Lancet 2021 https://doi.org /10.1016/ S0140-6736(21)01910-3) nach der die Unterschiede zwischen CAS  und  CEA  zumindest  für  asymptomatische  Patienten  nochmals  geringer  und  nicht  mehr signifikant  sind.  Auch  im  Langzeitverlauf  unterscheiden  sich  beide  Verfahren  in  allen Patientengruppen nicht signifikant. Die Bewertung der Evidenz für den Stent müsste in einer revidierten Fassung angepasst werden.  
 
Nach dem Scheitern von SPACE-2 und ECST-2 mangels Rekrutierung bleibt auch die Rolle einer zeitgemäßen medikamentösen Therapie asymptomatischer Patienten unklar. Ähnlich wie in der deutschen S3-Leitlinie wird eine generelle invasive Therapie aller hochgradigen Stenosen nicht  mehr  befürwortet.  Die  Indikation  zur  Revaskularisation  soll  für  Fälle  mit  erhöhtem Schlaganfallrisiko  (progrediente  Stenose,  fehlende  Kollateralmöglichkeiten  etc.)  durch  ein multidisziplinäres Team erwogen werden.  
 
Die Möglichkeit eines Stentings wird für symptomatische und asymptomatische Patienten im Expertenkonsensus für Fälle, die für eine Operation nicht gut geeignet sind, erwähnt. Mangels Evidenz  für  den  Stent  als  bevorzugte  Behandlungsmethode  gibt  es  -von  diesen  Ausnahmen abgesehen-  keine  expliziten  Empfehlungen  für  die  endovaskuläre  Therapie.  Hier  zeigen  sich am  deutlichsten  die  durch  die  Beschränkung  auf  randomisierte  Studien  bedingten Limitierungen  der  Leitlinie.  CAS-Zentren,  die  die  Qualitätskriterien  einhalten,  können  sich
darin nur eingeschränkt wiederfinden. Die Autoren der ACST-2-Studie sehen demgegenüber zwei  invasive  Verfahren  mit  in  erfahrenen  Händen  niedrigen  Komplikationsraten  und  guter Langzeiteffektivität. Angesichts der begrenzten Akzeptanz weiterer RCTs plädieren sie dafür, andere  Erkenntnisquellen,  etwa  Qualitätssicherungsregister  besser  zu  nutzen.  ACST-2  hatte keinen  medikamentösen  Arm,  diesbezüglich  bleibt  daher  CREST-2  als  einzige  noch  laufende groß angelegte randomisierte Carotisstudie abzuwarten.
 
Fazit:  Die  ESO-Leitlinie  liefert  eine  aktuelle  und  kritische  Analyse  der  Evidenz  aus randomisierten  Studien  für  die  Behandlung  von  Carotisstenosen.  Mangels  aktueller  Daten kann die Wertigkeit der medikamentösen Therapie und die heutige Wertigkeit des Stentings nur  eingeschränkt  angegeben  werden.  Die  deutsche  S3-Leitlinie  (AWMF  Nr.  004/028,  2020) mag  methodisch  etwas  weniger  streng  gearbeitet  haben,  berücksichtigt  jedoch  auch  nicht-randomisierte Studien, systematischen Übersichtsarbeiten und Qualitätssicherungsdaten, um
die heutige Versorgungsrealität abzubilden und Qualitätsanforderungen zu definieren.

Prof. Dr. Joachim Berkefeld
Institut für Neuroradiologie
Klinikum der Goethe-Universität Frankfurt am Main